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Sein bester Freund

homo.net Info vom 4. November 2021
von Webmaster Jan

 

Der Dirigent Valery Gergiev (68) ist seit 2015 Chef der Münchner Philharmoniker. Er wird von den Musikern verehrt, von Sängern geliebt und vom Publikum in aller Welt begeistert gefeiert.

Wer ihn das erste Mal hört, sieht, erlebt, ob im Konzertsaal oder Orchestergraben; auf Schallplatten oder Filmen; live oder online; ist entweder umgehend seiner außergewöhnlichen Kunst verfallen oder Kunstbanause. Das ist nicht nur in Moskau und Petersburg so, sondern auch in New York, Tokio, Bayreuth oder eben München.

Die Grünen in München haben ein Problem mit ihm. Gegen seine Berufung protestierten sie nachhaltig; viel nachhaltiger als zum Beispiel derzeit gegen die Umwelt belastende Raserei auf deutschen Autobahnen. Denn Gergiev hat einen Freund. Sein bester Freund heißt Wladimir Putin (69). Der ist seit 1999 Staatspräsident, Krimeroberer und ein großer Förderer der Kunst.

Putin hat was gegen Schwule. Das finden die Grünen mit recht unerträglich; wir auch. Deshalb verlangen sie von allen seinen Freunden, dass sie ausdrücklich nichts gegen Schwule haben; wir nicht. Denn wären die beiden Männer eine Familie, würde man von Sippenhaft sprechen. Freundschaftshaft ist genau so unerträglich.

In München hatte die schwul-lesbische Wählerinitiative Rosa Liste zu Protesten vor einem Konzert der Münchner Philharmoniker aufgerufen. Ähnliche Demos gab es bei Aufführungen in London und New York.

Es reicht nicht aus, dass Gergiev im täglichen Leben niemals Schwule diskriminiert hat und täglich problemlos mit ihnen arbeitet. Unter Künstlern gibt es bekanntlich nicht nur viel mehr Schwule als im Bevölkerungsdurchschnitt, sondern viele davon leben ihre Sexualität auch noch offen und ehrlich aus.

Darin unterscheiden sich Künstler deutlich von Profifußballern, Soldaten und Politikern.

In einer Pressekonferenz hatte der Dirigent die Vorwürfe gegen ihn zurückgewiesen. Natürlich sei in der künstlerischen Gemeinschaft kein Platz für Diskriminierung, betonte Gergiev. „Wenn jemand in meiner Gegenwart diskriminiert wird und ich schweige, ist das meine Verantwortung.“ Er sei aber Musiker und kein Politiker und könne darum nur für seinen Bereich sprechen. Er lobte außerdem die Kulturpolitik Putins.

Gergiev wird regelmäßig von seinem Freund für Propaganda missbraucht. Unter anderen Umständen würde man so etwas „Galakonzert“, „feierlicher Festakt“ oder sonst wie nennen.

Dass Putin die Ukraine erobert hat, stört nicht nur die Grünen gewaltig; uns auch. Dass sich Gergiev in diesem hochpolitischen Fall nicht ausdrücklich von seinem besten Freund Putin distanziert hat, stört neben den Grünen auch Kreml Kritiker Alexei Nawalny (45). Der wurde 2020 Opfer eines Giftanschlages, wurde in der Berliner Charité behandelt und bei seiner Rückkehr nach Russland umgehend wieder verhaftet. Damit hatte zwar Gergiev sicherlich absolut rein gar nichts zu tun; möglicherweise aber sein bester Freund.

Deshalb hat Nawalny der Europäischen Union vorgeschlagen, dem Dirigenten die Einreise in die EU-Länder zu verbieten. In einem Interview mit der Bild-Zeitung forderte er, Menschen wie Gergiev unter Druck zu setzen, damit sie sich von Putin abwenden. „Herr Gergiev wird zwar nicht versuchen, mich mit Nowitschok zu vergiften, aber er unterstützt alles, was Putin macht. Menschen wie er müssen mit Einreisesperren belegt werden und wissen Sie was: 99 Prozent aller Russen werden das begrüßen.“

Dass Herr Gergiev kein Giftmischer ist, glaube ich ungeprüft. Dass er alles unterstützt, was sein bester Freund Putin macht, glaube ich nicht. Denn ein Dirigent, der fast jeden Abend eine Vorstellung leitet und den vollständigen Rest seiner Tage mit Proben zubringt, ist Workaholic. Der hat nicht einmal die Zeit, alles zu wissen, was sein bester Freund macht.

Am internationalen Tag gegen Homophobie 2019 kam es im Vorfeld der Bayreuther Festspiele zu einer Demonstration gegen Gergiev. Die Demo verhinderte seine Neueinstudierung des Tannhäuser nicht.

Diesen Sommer wurde die Inszenierung ohne Gergiev wieder aufgenommen; die Gelegenheit für Regisseur Tobias Kratzer (41) den russischen Star-Dirigenten zu ärgern. In einem Einspieler seiner Multimedia-Tannhäusershow war die Bayreuther Galerie mit Dirigenten-Porträts zu sehen. Vor dem Bild Gergievs stand ein Schild: „Komme etwas später“. Gergiev war im Premierenjahr wohl nicht immer pünktlich zu den Proben erschien.

Festspiel-Chefin Katharina Wagner (43) räumte damals ein, dass er zweimal zu spät gekommen sei. Wer noch nie in seinem Leben zu spät gekommen ist, werfe den ersten Stein. Im Einspieler von 2019 stand noch Christian Thielemann (62) im Fokus. Der war damals noch Musikdirektor der Festspiele. Seine Homosexualität hält er nicht geheim, redet aber öffentlich niemals davon. Er hält sie für seine Privatsache.

Sein Vertrag an der Semperoper läuft 2024 aus. Kulturministerin Barbara Klepsch (56, CDU) will ihn nicht verlängern. Sie will neue Wege gehen: „Wir sehen dabei das, was heute gut ist, und denken trotzdem an das Übermorgen der Oper.“ Damit solle die Semperoper über die Stammgäste hinaus Anziehungskraft gewinnen. Bei der Suche nach Attraktiverem wünsche ich den Stadtmüttern und Vätern von Dresden viel, viel Glück. Das werden sie brauchen. Denn eins ist sicher: Ausnahmedirigenten wie Christian Thielemann gibt es wenige, bessere und damit attraktivere gar nicht.

Derweil fliegen in München die Fetzen. Seit dieser Saison hat auch die Bayerische Staatsoper einen russischen Stardirigenten als Chef. Für seine erste Premiere als Generalmusikdirektor hat sich Vladimir Jurowski (49) „Die Nase“ von Dmitrij Schostakowitsch (1906 - 1975) ausgesucht.

Bei dem Schriftsteller Nikolai Gogol (1809 -1852) hatte die Satire 1836 etwas von einer erotisch-moralischen Fabel. Bei ihm stand die Nase noch für ein anderes männliches Körperteil. Bei Schostakowitsch wurde sie zu einer gesellschaftspolitischen Farce über Dünkel und Dummheit des untergegangenen Zaren-Regimes sowie über die Zustände in der frühen Sowjetunion. In München wurde das Werk jetzt zu einer sarkastischen Abrechnung mit Putins autoritärem Regime. Der mit Reiseverbot belegte Russe Kirill Serebrennikov (52) führte virtuell Regie.

Serebrennikow ist Putin ein Dorn im Auge, weil er aus seiner Homosexualität keinen Hehl macht und in seinen Arbeiten häufig auch die orthodoxe Kirche Russlands kritisiert. Seine Münchner „Nase“ wurde zu einer Abrechnung mit dem russischen Polizeistaat, seiner Absurdität und Brutalität; seiner Eiseskälte und Willkür.

Der Dirigent Vladimir Jurowski griff den Fehdehandschuh auf: „Bei Wladimir Putins Geburtstag habe ich bis jetzt nicht dirigieren müssen und werde das auch nie tun.“ Die Stoßrichtung war offensichtlich: sein viel berühmterer russischer Kollege bei den Philharmonikern der Stadt.

Feuilletonisten applaudieren und fordern von der klassischen Musikwelt politische Korrektheit. Auch der Intendanten der Münchner Philharmoniker, Paul Müller (63), gerät in ihre Kritik. Wenn er nach Gergievs Positionen zur Krim oder gegenüber Homosexuellen gebeten wird, argumentiert er mit recht immer gleich: Es handle sich um eine Privatmeinung des Dirigenten, die er als Intendant nicht kommentiere.

Wenn Forderung nach politischer Korrektheit in der Kunst in politisch unkorrekter Freundschaftshaft und kleinlichstem deutschem Pünktlichkeitswahn gipfeln, werden diese Menschen niemals zu meinen besten Freunden gehören.

Musik kann Brücken bauen
Jan
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