Manor
- Novelle -
von Karl Heinrich Ulrichs
IV.
So mochten zwölf Tage vergangen sein.
Lära: »Bist so bleich und so blaß. Was ist Dir, Har?«
Er: »Nichts, Mutter.«
Sie: »Bist so still.«
Er seufzte. – – –
Im letzten Häuschen des Dorfes wohnte eine weise Frau, die allerlei Geheimnisse wußte. Zu der ging die besorgte Mutter. Die weise Frau warf Runenstäbe.
Weise Frau: »Ihn besuchen die Toten.«
Lära: »Die Toten?«
Weise Frau: »Ja, des Nachts; und daran muß einer sterben, wenn dem Besuch nicht bei Zeiten Einhalt geschieht, eh es zu spät ist.«
Bestürzt kehrte Lära heim.
Sie: »Ists wahr, Har, bekommst Du Totenbesuch?«
Er blickte zu Boden. »Manor ist dagewesen,« sagte er leise und sank ihr weinend an die Brust.
Sie: »So mögen dir die Götter gnädig sein!«
Er: »Die Götter? Pah! Was sollen mir jetzt noch die Götter! Als er sich an die Planke klammerte, o weh! o weh! da war es Zeit, mir gnädig zu sein, wenn sie es wollten. Aber erbarmungslos ließen sie ihn versinken. Wie hab ich ihn so lieb gehabt!« – –
Nun bemerkte sie auch die Blutspuren in seinem Hemde. Da ging sie zu den Dorfältesten. Diese ruderten hinüber nach Wagö mit Mutter und Sohn, auch die weise Frau nahmen sie mit. Zu den Wagöern sagten sie:
»Eure Gräber schließen nicht. Einer verläßt sein Grab jede Nacht; kommt herüber zu uns; saugt sich voll am Blut dieses Knaben.«
Die Wagöer: »So wollen wir ihn festmachen.«
Griffen einen tannenen Pfahl, manneslang und mehr als armesdick, den sie mit einem Beil viereckig behieben, unten fußlang zugespitzt. Gingen zu den Dünen; einer trug den Pfahl, ein anderer eine schwere Axt. Oeffneten Manors Grab. Da lag er ruhig und still vor ihnen da im Totenhemd.
Erster Wagöer: »Seht! Er liegt noch so, wie wir ihn hingelegt.«
Weise Frau: »Weil er sich jedesmal wieder in die alte Stellung legt.«
Zweiter Wagöer: »Sein Gesicht ist ja fast frischer als sonst.«
Weise Frau: »Kein Wunder. Dafür ist Hars Gesicht jetzt desto blasser.«
Har stieg hinab und warf sich nochmals über die geliebte Leiche.
»Manor! Manor!« rief er mit angsterfüllter Stimme. »Sie wollen Dich pfählen. Manor, erwache! Schlage die Augen auf! Dich ruft dein Har!«
Aber er schlug die Augen nicht auf. Regungslos lag er unter Hars Umarmung, wie vor zwölf Tagen am Strande auf dem Stroh.
Har wollte ihn nicht loslassen. Sie rissen ihn weg. Setzten Manor die Spitze des Pfahls auf die Brust. Aechzend wandte sich Har. Fiel der Mutter um den Hals. An ihrer Schulter barg er sein Gesicht.
»Mutter!« rief er aus, »warum hast du mir das getan!«
Die flache Rückseite der Axt hörte er niederfallen auf den Pfahl und den Pfahl stöhnen. Ein schwerer Schlag; noch ein Schlag und noch ein halb Dutzend Schläge.
Erster Wagöer: »Nun ist er festgemacht!«
Zweiter: »Das Wiederkommen soll er nun wohl bleiben lassen.«
Har trugen sie halb ohnmächtig davon. »Nun wird er dich in Ruhe lassen, mein liebes Kind!« sagte Lära, da sie wieder in ihrer Hütte waren.
Betrübt ging er zu Bett. »Nun kommt er nicht mehr!« sagte er kummervoll vor sich hin. War müde und matt. Friedlos aber und ruhelos wälzte er sich auf seinem Lager. Langsam schlichen die Minuten; träg krochen die Stunden dahin. Mitternacht kam und noch kein Schlaf hatte sich über seine Wimpern gesenkt.
Horch! Was ist das? Im Fliederbaum … – Doch nein; das war ja unmöglich. Und doch! Wieder, wie früher, raschelte es in den Zweigen des Baums. Das Fenster öffnete sich. Manor war wieder da. Seufzte tief auf. Hatte eine große Wunde in der Brust, die viereckig war und ihm bis durch den Rücken ging. Legte sich wieder zu Har, umschlang ihn und sog. Sog verlangender denn zuvor und dürstender.
Nebenan aber wachte diese Nacht Lära; horchte und zitterte. Früh morgens kam sie herein und trat an Hars Bett.
Sie: »Mein armes Kind! Er ist doch wieder dagewesen.«
Er: »Ja, Mutter; er ist wieder bei mir gewesen.«
Das Bett aber war befleckt mit Leichenblut, das aus der großen Wunde hervorgeträufelt war.