Lysis
- Sokrates erzählt -
von Platon
B. Hauptteil: 2.
c) Wer ist dem anderen Freund, der Liebende dem Geliebten oder der Geliebte dem Liebenden?
Sage mir also, wenn einer einen liebt, welcher wird des andern freund, der Liebende des Geliebten oder der Geliebte des Liebenden? Oder macht das keinen Unterschied?
Mir wenigstens, sagte er, scheint es keinen Unterschied zu machen.
Wie sagst du? Sprach ich! Beide also werden einander freund, wenn auch nur der eine den andern liebt?
Mich wenigstens, sagt er, dünkt es so.
Wie doch? Geschieht es nicht, daß der Liebende nicht wieder geliebt wird von dem, den er liebt?
Es geschieht.
Und wie? Geschieht es auch, daß der Liebende gehaßt wird? Wie doch manchmal die Liebhaber mit den Lieblingen dran zu sein glauben. Denn wiewohl liebend so sehr es nur irgend möglich ist, meinen doch einige, daß sie nicht wieder geliebt, andere gar, daß sie gehaßt werden. Oder dünkt dich dieses nicht wahr zu sein?
Sehr wahr, sagte er.
Und in einem solchen Falle, sprach ich, liebt doch der eine, der andere wird geliebt?
Ja.
Welcher also von ihnen ist des andern freund? Der Liebende des Geliebten, mag er nun wieder geliebt werden oder auch gehaßt? Oder der Geliebte des Liebenden? Oder ist im Gegenteil keiner von beiden in diesem Falle des andern freund, wenn nicht beide einander lieben?
Es hat wohl das Ansehen, als verhielte es sich auf die letzte Art.
Anders also scheint es uns jetzt, als es vorher schien. Damals nämlich, daß wenn auch nur der eine liebt, beide Freunde wären: jetzt aber, daß wenn nicht beide lieben, keiner Freund ist.
So kommt es heraus, sagte er.
Das Liebende ist also auch keinem freund, was nicht wiederliebt?
Es scheint nicht.
Also ist auch der kein Pferdefreund, den seine Pferde nicht wieder lieben, noch auch Wachtelfreund, noch Hundefreund, noch Weinfreund, noch Weisheitsfreund, welchen die Weisheit nicht wiederliebt? Oder liebt zwar jeder von diesen seinen Gegenstand, ist ihm aber doch nicht freund, sondern der Dichter hat unrichtig gesprochen, welcher sagt: "Glücklich wer denen er freund ist, Kinder und mutige Pferde, Hunde zur Jagd, Gastfreund, auch in der Ferne besitzt?"
Nicht so scheint es mir wenigstens.
Sondern richtig dünkt er dich zu reden?
Ja.
Der Liebende ist also allerdings dem Geliebten freund, wie es scheint, o Menexenos, dieser mag ihn nun lieben oder hassen. So wie auch den Kindern, teils den ganz jungen, welche noch nicht lieben, teils auch denen, welche hassen, wenn sie eben von der Mutter oder dem Vater gezüchtiget worden, dennoch selbst in dieser Zeit, wenn sie hassen, die Eltern über alles in der Welt freund sind.
Mir, sagte er, scheint es so zu sein.
Nicht also der Geliebte ist freund nach dieser Rede, sondern der Liebende.
Das ist deutlich.
Also ist auch der Hassende feind, nicht der Gehaßte?
So scheint es.
Viele also lieben die, welche ihnen feind sind, und hassen dagegen die, welche ihnen freund sind, und sind also den Feinden freund und dagegen den Freunden feind, wenn nämlich der Liebende freund ist, und nicht der Geliebte? Dieses aber ist doch große Unvernunft, lieber Freund, oder vielmehr glaube ich, gar unmöglich, dem Feinde freund sein und dem Freunde feind?
Sehr recht, sagte er, hast du offenbar, o Sokrates.
Also wenn dieses unmöglich ist, so wäre wohl der Geliebte dem Liebenden freund?
Das leuchtet ein.
Also auch der Gehaßte dem hassenden feind?
Notwendig.
Wird aber nicht so herauskommen, daß wir notwendig dasselbe zugeben müssen, wie bei dem Vorigen, daß oft einer freund ist dem, der ihm nicht freund ist, oft auch dem, der ihm feind ist, wenn jemand geliebt wird nicht wiederliebend oder wohl gar hassend; daß auch oft einer feind ist dem, der ihm nicht feind ist, sondern wohl gar freund, wenn jemand gehaßt wird nicht wieder hassend oder wohl gar liebend?
So scheint es zu werden, sagte er.
Was also sollen wir machen, sprach ich, wenn weder die Liebenden Freunde sein sollen, noch auch die Geliebten, noch auch nur die zugleich Liebenden und Geliebten, sondern wir von andern außer diesen behaupten sollen, daß sie einander freund werden?
Beim Zeus, sagte er, o Sokrates, ich weiß gar keinen Rat.
Haben wir auch etwa, sprach ich, o Menexenos, unsere Untersuchung überall unrichtig angelegt?
So dünkt es mich wohl, o Sokrates, sagte Lysis. Und wie er es gesagt, so errötete er, So daß das Wort ihm schien wider Willen entschlüpft zu sein, weil er mit ganzer Seele darauf achtete, was gesprochen ward. Und so hatte er offenbar auch, als er zuhörte, immer getan.