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Sicherheit kostet so wenig bei

Schwuchteln

homo.net Info vom 11. Juni 2020
von Webmaster Jan

 

Was man über den Autor, Dramatiker, Filmproduzenten, Schauspieler, Propagandisten öffentlicher Gesundheit und Aktivisten Larry Kramer (84) wissen sollte: Er war eine Nervensäge. Aber er hat damit in seinem Leben vielen, vielen Menschen das Leben gerettet. Jetzt ist er in Manhattan in den Armen seines Ehemannes an einer Lungenentzündung gestorben. 32 Jahre hat er seine Diagnose HIV+ überlebt, 18 Jahre davon mit einer neuen Leber.

Am 25. Juni 1935 wurde Larry als jüngerer von zwei Brüdern geboren. Die Familie gehörte zum gut situierten jüdischen Bürgertum von Bridgeport im US-Bundesstaat Connecticut. Ungeliebt von den eigenen Eltern war er kein sehr glückliches Kind. 1953 begann er ein Studium der englischen Literatur gleich nebenan an der Elite-Universität Yale. Im selben Jahr versuchte er sich mit einer Überdosis umzubringen, weil er einsam war und dachte, er sei der einzige Schwule auf dem gesamten Campus.

Der Selbstmordversuch legte seine Lebensthemen fest: Die Akzeptanz schwulen Lebens und das Nachdenken über die Natur der Liebe unter Männern sowie die Umstände, die ihr entgegenstehen.

Zäh ist er gewesen. Während einer Leistenbruch Operation 1988 entdeckten die Ärzte nicht nur Leberschäden aufgrund einer Hepatitis, sondern auch seine HIV Infektion. Menschen, die mit HIV leben, wurden damals aufgrund von Komplikationen durch HIV und der erwarteten kurzen Lebensdauer routinemäßig als unangemessene Kandidaten für Organtransplantationen angesehen.

„Wir sollten nicht zum Tode verurteilt werden dafür, wer wir sind oder wen wir lieben“, sagte Larry damals in einem Interview. Das Magazin Newsweek meldete im Juni 2001, dass er im Sterben läge und die New Yorker Nachrichtenagentur Associated Press berichtete im Dezember desselben Jahres irrtümlich über seinen Tod. Aber totgesagte leben länger. Am 21. Dezember 2001 erhielt er eine neue Leber und wurde damit zum Symbol für infizierte Menschen, die aufgrund der Fortschritte in der Medizin neue Lebensbedingungen gefunden hatten.

Sein Privatleben war weniger turbulent. Am 24. Juli 2013 heiratete er seinen Jugendfreund, den Architekt und Designer William David Webster (72). Sie waren von 1991 bis zu Kramers Tod zusammen. Jahrzehnte vorher hatten die beiden sich schon einmal gekannt und geliebt. In den 1970er-Jahren inspirierte ihn das Ende dieser Beziehung zu seinem einzigen Roman „Fagots“ (1978). Erst 33 Jahre später erschien diese zynische Demontage der schwulen Boheme im New York der späten 1970er-Jahre auch in Deutschland unter dem schmissigen Titel „Schwuchteln“ (2011).

„Schwuchteln“ erzählt die Geschichte des Drehbuchautors Fred Lemish, der sich auf der Suche nach der großen Liebe ein Wochenende lang quer durch New York und Umgebung vögelt. Kaum ein schwules Buch hat das Publikum bis heute so gespalten wie dieses, weil Kramer kein Blatt vor den Mund nimmt, und die schwule Szene vor AIDS in ihrer sinnenfreudigen Pracht, aber auch kompletten emotionalen Leere darstellt.
Kritiker loben den Roman als scharfzüngiges, stellenweise unfassbar komisches Meisterwerk. Aber viele schwule Männer nehmen es Kramer übel, dass er, wie Broadway-Legende Arthur Laurents es ausdrückte, „alle unsere Geheimnisse ausgeplaudert hat“. Sie wollen sich von Kramers Prognose nicht warnen lassen, dass sie sich in Parks, Saunen, Klappen und den eigenen Betten „irgendwann noch mal zu Tode ficken“ würden.

Man sollte das auch heute noch höchst aktuelle Buch nicht nur wegen seiner literarischen Qualität lesen, sondern weil Kramer sich damit, wenn auch unbeabsichtigt, als einer der großen Propheten des 20. Jahrhunderts erwies. „Ich war bis dahin kein politischer Aktivist gewesen, sondern verbrachte meine Sommer auf Fire Island. Dabei ging es um die reine Schönheit und die golden schimmernden Jungs in den Dünen. Männer, die protestierend die Fifth Avenue herunter marschierten, lebten in einer anderen, mir sehr fremden Welt.“

Larry Kramer sagte immer wieder: Dass es heute Kombinationstherapien und in der westlichen Welt eine gut funktionierende Gesundheitsversorgung für Millionen HIV-Positiver gäbe, sei die größte zivilisatorische Leistung einer diskriminierten Gruppe in der Menschheitsgeschichte.

1987 war er der katalytische Mitbegründer von ACT UP, einer Gruppe radikaler AIDS-Aktivisten, die bis 1993 rund um den Globus Kirchen, Parlamente und Rathäuser stürmten und lautstark klare politische Forderungen stellten.

Die erste Demonstration von ACT UP fand am 24. März 1987 statt. Rund 250 Demonstranten legten zur Hauptverkehrszeit den Verkehr vor der Börse in der Wall Street lahm. Demonstriert wurde gegen die hohen Preise für AIDS-Medikamente und die restriktive Haltung der Food and Drug Administration, welche neue Medikamente nur sehr zögerlich frei gab, während viele Menschen starben. Gegen die Sitzblockade ging die Polizei hart vor. 17 Aktivisten wurden wegen „zivilen Ungehorsam“ verhaftet. Kramer veröffentlichte seine gesammelten Artikel und Aufsätze aus dieser Zeit unter dem Titel „Berichte aus dem Holocaust“.

Im Januar 1981 trat der Schauspieler Ronald Reagan sein Amt als 40. Präsident der Vereinigten Staaten an. Kurze Zeit später wurde AIDS erstmals diagnostiziert, beschrieben und benannt. Eines der ersten Resultate der ACT UP Aktionen war, dass er Ende Mai 1987 erstmals das Wort AIDS in einer Rede öffentlich aussprach und damit die Epidemie anerkannte. Bis dahin war er schon 6 Jahre im Amt. Es waren in den USA schon rund 60.000 Fälle registriert und 28.000 Menschen gestorben, als der Präsident endlich reagierte. Und da soll noch jemand sagen, Geschichte würde sich nicht wiederholen.

Larry Kramer war Aktivist bis zum letzten Atemzug. Angesichts der Corona-Pandemie sah sich Kramer zurückversetzt in die Zeiten von AIDS in den 1980er-Jahren. „Die Regierung hat bei AIDS schrecklich agiert und agiert bei dieser Sache schrecklich. Man fragt sich, was aus uns werden wird“, äußerte er sich noch kurz vor seinem Tot gegenüber einem Reporter der New York Times.

Diesem Versagen und der Ungerechtigkeit des Todes müssten die Menschen erneut mit Wut begegnen. Und es müsse jemanden geben, der diese Wut in produktive, kämpferische Bahnen lenkt. „Ich wünschte, ich könnte es sein“, sagte Kramer mit Bedauern. Es ist wieder Zeit niederzuknien.

Wenn Larry Kramer sich noch etwas wünscht, klingt das heute so: „Ich wünschte, ich könnte allen Schwulen etwas begreiflich machen, von dem ich mit absoluter Sicherheit weiß, dass es wahr ist: Wir werden gehasst. Sind noch nicht genug von uns gestorben, als dass wir das endlich glauben können? 70 Millionen AIDS-Fälle, zusammengebraut in einem großen Kessel aus Hass. Wir scheinen nicht begreifen zu wollen, dass je sichtbarer wir werden, je mehr von uns sich outen, desto angreifbarer werden wir auch und umso mehr werden wir gehasst.“ Ob er damit recht hat, möge jeder für sich entscheiden. Aber gut ist, wenn er manchmal damit nervt.

Larry Kramers Antwort darauf war, dass wir uns selbst und gegenseitig so viel wie möglich lieben sollten.

In Bewunderung und Dank,
Jan
Webmaster
vom homo.net Team

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