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RotZSchwul ein Leben lang

homo.net Info vom 10. November 2022
von Webmaster Jan

 

Ganz vorne weg eine für uns alle richtig gute Nachricht: Die Staatsanwaltschaft Köln hat ein Ermittlungsverfahren gegen Rainer Maria Kardinal Woelki (66) eingeleitet. Endlich! Das wurde aber auch Zeit.


Diese Woche wurde der Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Martin Dannecker 80 Jahre alt. Dass heute 5 Millionen Schwule in Deutschland frei und offen leben können, hat zu einem nicht unwesentlichen Teil vor 80 Jahren auf einem Bauernhof im Schwarzwald begonnen.

Nach Grundschule und Lehre als Industriekaufmann wollte er mit 18 Jahren in Stuttgart Schauspieler werden. Damals noch lange nicht volljährig, setzte er seinen Willen gegen die Eltern durch. Die Erkenntnis, dass er schwul ist, hat den Schauspieler Martin Dannecker verhindert.

Er wollte viel, viel mehr über seine damals sowohl strafbare wie auch als krank angesehene Sexualität wissen, als die dürftige Literatur darüber hergab. Er musste es selber herausfinden. Zum Glück für uns alle ist es ihm nachhaltig gelungen, wie keinem Zweiten.

1966 kam er nach Frankfurt am Main, holte das Abitur nach, studierte Philosophie, Soziologie und Psychologie an der Frankfurter Uni und wurde außerordentlicher Professor am Institut für Sexualwissenschaft der Frankfurter Uniklinik. Er forschte, lehrte und schrieb über männliche Homosexualität, sexuelle Minderheiten, HIV/AIDS, Pädosexualität und die ganze Theorie der Sexualität.

Früh setzte er sich für unsere Rechte ein. Als Aktivist schrie er laut in alle Welt hinaus, als Sexualwissenschaftler bewies er, als kompetenter Autor zahlreicher Sachbücher publizierte er: Homosexualität ist weder eine Straftat noch eine Krankheit sondern eine häufige Form menschlicher Liebe.

Für Rosa von Praunheim (79) schrieb er den Text zum Spielfilm „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (1971). Insbesondere dieser Skandalfilm löste Diskussionen aus, die zur Gründung der ersten politischen Schwulengruppen der Nachkriegszeit führten.

Dannecker war 1971 in Frankfurt am Main eines der 10 Gründungsmitglieder für die „Rote Zelle Schwul“ kurz „RotZSchwul“ genannt. In Münster trat er 1972 mit weniger als 50 anderen zur ersten Schwulen-Demo an. 1974 erschien „Der gewöhnliche Homosexuelle“, eine empirische soziologische Untersuchung über homosexuelle Männer in der BRD. Wer schwul war oder es ahnte, der las damals dieses Buch.

Ab 1977 prägte er die progressiven Sexualwissenschaften in den 1980-er Jahren die AIDS-Debatten. Seine Thesen waren nicht unumstritten. Promiskuitives Verhalten gehört für ihn zur gelebten schwulen Sexualität. Forderungen nach Enthaltsamkeit lehnt er ab.

Bis Ende 2005 lehrte der wohl bedeutendste deutsche Theoretiker zur Homosexualität der Nachkriegszeit in Frankfurt am Main. Nach seiner Emeritierung zog er nach Berlin, wo er bis heute hauptsächlich über Intersexualität forscht.

2007 schrieb er: „Eine Prävention, die zur Diktatur der Gesundheit und normativer Vorstellungen der sexuellen Lebensführung wird, ist inhuman.“ Damit machte er den Weg frei zur Vorbeugung durch Therapie, PrEP und PEP. Mit seinen Thesen zwang er Gesundheitspolitiker und AIDS-Hilfen immer wieder, ihre Ansätze zur Prävention zu überdenken. Erst verteufelten und bekämpften sie ihn, 2016 machten sie ihn dankbar zum Ehrenmitglied der deutschen AIDS-Hilfe.

Noch immer ist er so rebellisch und rotzschwul wie damals, 80 Jahre und kein bisschen leise.

Hätte Luther keine 95 Thesen an die Kirchentür in Wittenberg, hätte Gutenberg nicht die Druckerpresse erfunden, hätte Turing nicht den universell programmierbaren Computer gebaut, andere hätten getan - oder auch nicht.

Wäre Martin Dannecker Schauspieler geworden, andere hätten für uns bewiesen, dass Schwule keine kranken Straftäter sind sondern liebende Menschen - oder auch nicht. Durch Dich ist die Welt wärmer und schwuler geworden.

Wir alle haben Dir viel zu Verdanken. Zum 80. der Wunsch, dass Du uns noch lange erhalten bleibst und uns weiter frech und rotzschwul voranschreitest.

Reichlich schwule Glückwünsche
Jan
Webmaster
vom homo.net Team

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