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Es ist nichts falsch an Liebe

Rede vom 4. Juli 2019
von Yuval Noah Harari

 

Wir präsentieren stolz die Rede von Yuval Noah Harari anläßlich der Demonstration für Stolz und Toleranz in Jerusalem 2019:

„Guten Abend, Jerusalem,

Ich werde eine ganze Weile reden, aber nur für 10 Minuten. Versprochen.

Ich freue mich sehr, heute hier zu sein, nicht nur als homo sapiens sondern auch als homo sexualis. 50 Jahre sind seit dem Stonewall Aufstand vergangen. Er war ein Wendepunkt in der Geschichte der LGBT Revolution.

Es ist absolut erstaunlich, was in den 50 Jahren erreicht wurde. Damals war Homosexualität in den meisten Ländern der Welt ein Verbrechen. Selbst an Orten, wo sie legal war, wurden häufig soziale Beziehungen und Karrieren derer zerstören, die es wagten, sich öffentlich als Schwul zu bekennen.

In vielen Ländern ist auch heute noch die Situation schwierig und verschlechtert sich teilweise sogar. In weiten Teilen der Welt hat sich jedoch vieles zum Besseren gewendet - auch in Ländern mit eher konservativer Grundhaltung: Die serbische Ministerpräsidentin ist eine bekennende Lesbe. Der irische Premierminister ist ein stolzer schwuler Mann. Selbst hier in Jerusalem gibt es eine Pride Parade, 50 Abgeordnete hatten schon ihr öffentliches Coming Out und auch der Justizminister ist schwul.

Diese Veränderungen sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind das Ergebnis eines harten Kampfes, der von vielen Menschen auf der ganzen Welt ausgefochten wurde, Menschen aus allen Teilen des Geschlechterspektrums. Sie haben oft einen hohen Preis für ihren Kampf bezahlt. Anwälte fochten in den Gerichtssälen, Teenager wagten ihr Coming Out auf den Schulhöfen, manche schrieben Lieder, andere schrieben Schecks.

Bleibt die Frage: Warum war dieser Kampf überhaupt notwendig? Warum mussten Tausende von Jahren der Unterdrückung vergehen, bevor die Menschen realisierten, es ist nichts falsch an Liebe? Wenn zwei Männer sich lieben oder zwei Frauen sich lieben - was könnte daran falsch sein?

Selbst wenn es Götter gäbe, bin ich ziemlich sicher, dass sie Menschen nie für ihre Liebe verurteilen würden. Liebe verstößt auch nicht gegen irgendwelche Naturgesetze. Als Wissenschaftler kann ich Euch, mit der Hand auf dem Herzen, versichern: Homosexuelle und Lesben, Bisexuelle und Transgender, keine menschliche Lebensform verstößt gegen die Gesetze der Natur. Das ist einfach unmöglich. Was gegen Naturgesetze verstößt, existiert nicht. Wenn etwas existiert, heißt das, es ist natürlich.

Nur in Geschichten, die von Menschen erfunden und manchmal geglaubt werden, gibt es Probleme mit Transgendern oder Homosexuellen.

Es gibt viel unnötiges Leiden auf der Welt. Wenn wir auf die Zeit zurückblicken, die seit 1969 vergangen ist, müssen wir dankbar sein für das Erreichte und denen danken, die hart dafür gekämpft haben. Wenn wir in die Zukunft schauen, können wir nicht selbstzufrieden sein. Die Geschichte bewegt sich niemals in gerader Linie. Errungenschaften der Vergangenheit sind keine Versicherung für die Zukunft.

Zum Vergleich: Die Situation der europäischen Juden war nie besser als in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie genossen beispiellose Freiheit, gleiche politischen Rechte und rechtliche Gleichstellung. Wir alle wissen, was als nächstes geschah.

Es gibt besorgniserregende Entwicklungen. LGBT Menschen sind ein beliebtes Ziel für Diktatoren und extreme Politiker auf der ganzen Welt, von Russland bis Brasilien.

Aber bei einem bin ich mir ziemlich sicher: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder zurück in den Schrank klettern werden. Nicht nur, weil diejenigen, die Freiheit gekostet haben, nicht bereit sind, in die Dunkelheit der Schränke zurückzukriechen, sondern auch, weil Technologie alle diese Schränke allmählich zerstört.

Wo sich die politische Situation in den kommenden Jahren ernsthaft verschlechtert, wird es Menschen geben, die ihr Profil auf Grindr löschen und versuchen werden unterhalb des Gaydar zu fliegen. Nützen wird es ihnen nicht. Weil Gaydar in jeden Winkel dringt.

Wir befinden uns inmitten einer enormen technologischen Revolution. Sie verändert die Spielregeln. Wissenschaftler entwickeln gerade neue Überwachungstechnologien. Alle Regime haben in Kürze die Möglichkeit, ihre Untertanen jederzeit auszuspionieren, wenn sie es wollen. Sie können nicht nur jederzeit verfolgen was wir tun, sondern auch was wir fühlen. Diese neuen Überwachungstechnologien werden keineswegs nur in Russland und China entwickelt, sondern auch hier in Israel. Einige der Entwickler könnten heute durchaus hier bei uns im Publikum sein.

Zwei Kilometer von hier entfernt befindet sich eines der größten und wichtigsten Labors der Welt. Dort wird solche Überwachungstechnologie entwickelt. Das Labor heißt “The Territories„. Die dort entwickelten Techniken werden an verschiedene Regime auf der ganzen Welt verkauft - einige davon moderat, andere dagegen maßlos. Wer weiß, ob diese Technik eines Tages nicht auch gegen die Bürger Israels, gegen LGBT oder gegen jedwede andere Minderheit eingesetzt wird, die den Machthabern nicht passt.

Die Kombination innovativer Technologien mit konservativen Ideologien könnte die schlimmsten totalitären Regime der Menschheitsgeschichte hervorbringen, noch schlimmer als die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Dies ist aber keine Prophezeiung. Es ist nur eine von vielen Möglichkeiten.

Wenn Du davor Angst hast, ist es nie zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. So trostlos die Zukunft für einige von uns heute noch aussieht, als 1969 in New York LGBT gegen Polizisten kämpften, wirkte ihre Zukunft unermesslich viel düsterer. Letztendlich sind die meisten schrecklichen Szenarien von 1969 nicht eingetreten. Viele Menschen haben sich die Mühe gemacht, das zu verhindern.

Wenn Ihr helfen möchtet, unerträgliche Entwicklungen im 21. Jahrhundert zu verhindern, könnt Ihr vieles unternehmen. Das Wichtigste, was Ihr tun könnt, ist, sich einer Organisation anzuschließen. 50 Menschen, die in einer Organisation zusammenarbeiten, können viel mehr bewirken als 500 Einzelaktivisten oder Schönredner. Ich werde Euch nicht sagen, welcher Organisation Ihr beitreten sollt - es gibt viele gute Möglichkeiten. Aber bitte wartet nicht damit. Macht es noch diese Woche. Sitzt nicht zu Hause und beschwert Euch. Schließt Euch jetzt einer Organisation an. Und zwar bis spätestens Ende nächster Woche.

Das letzte Wort soll die Person haben, die vor 50 Jahren in New York den Aufstand gegen die Polizei ausgelöst hat. Während die Polizisten sie packten und zum Streifenwagen zogen, kämpfte sie mit allem, was sie hatte. Als sich eine gaffende Menge versammelte, rief sie:

‚Steht nicht einfach da - warum macht ihr nicht was?!‘

Vielen Dank.“
Yuval Noah Harari

Stolz schwul zu sein,
Jan
Webmaster
vom homo.net Team

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