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Skandal in Bayern

homo.net Info vom 16. Juli 2020
von Webmaster Jan

 

Vor 30 Jahren, am 14. Juli 1990, wurde Walter Sedlmayr zwischen 18.00 und 19.00 Uhr in seiner Wohnung in München erschlagen. Bis heute gilt dieser Mord als Kriminalfall des Jahrhunderts.

Alle 10, 20 oder 25 Jahre kommt es zu neuen Presselawinen mit heißen Spuren, unschuldigen oder neuen Tätern, Klagewellen der beiden inzwischen entlassenen Mörder, pikanten Details und immer den gleichen Vorurteilen. Sie besonders hören bis heute nicht auf. Zum 30. Todestag ist es endlich an der Zeit, Vorurteile zu Grabe zu tragen.

Wer sich nicht so genau erinnert: Vor 30 Jahren kannte praktisch jeder den Walter Sedlmayr. Sein Bekanntheitsgrad war nahezu 100 %. Volksschauspieler, Regisseur, Autor, Antiquitätenkenner und schwer reicher Händler derselben. Als Gastwirt „Zum Sedlmayr“ und Werbefigur für bayrisches Bier war er der Inbegriff deutscher Gemütlichkeit.

In München geboren, gelebt und gestorben war er nicht einfach nur Bayer. Er war DER Bayer schlechthin, so wie er im Buche steht, wie er zum Beispiel von Thomas Mann in den Buddenbrooks beschrieben wird. Er bediente alle Vorurteile des typischen Bayern: Gemütlich, ehrbar, sittsam, Bier trinkend, grantig, bienenfleißig, schlitzohrig, ein bayrischer Dickschädel mit Starallüren, ein Mann in bayrischem Glanz.

Tatsächlich wurde Walter Sedlmayr so brutal ermordet wie sonst keiner. Schon die drei Messerstiche waren tödlich, bevor ein Schlag mit dem Hammer seinen Schädel zertrümmerte. Ein Fest für die Medien im Blutrausch. Welcher Medienmogul würde seine Journalisten zu sorgfältiger Zurückhaltung mahnen, wenn monatelang jede Sedlmayr Schlagzeile die Auflage um 100% verdoppelt? Das Publikum konnte scheinbar nicht genug davon bekommen.

Damals gab es noch Schnappschüsse der Polizei auf Polaroid. Da konnte man das Bild schon nach nur wenigen Minuten richtig sehen. Heute kaum mehr vorstellbar. Die wurden von nie gefassten Paparazzis gegen Höchstgebote von 40 bis 50 Tausend Mark das Stück verhökert, teuer bezahlt und veröffentlicht oder öffentlichkeitswirksam empört zurückgewiesen, nur um Jahre später doch noch kostenlos in allen grausamen Details abgedruckt zu werden. Eine Katastrophe für die Ermittler.

Vier Tage nach dem Mord wurde der Blutrausch der Presse jäh gestoppt und in den größten Skandal verwandelt, den der Freistaat je erlebt hat. Bild outete den Volksschauspieler für 60 Pfennige. So groß war der Skandal, dass auch die wohl größte und längste Schlagzeile die es je gab, nur andeutete, mehr verhüllte als enthüllte, obwohl sie eine Doppelseite der Zeitung fast vollständig einnahm:

„Er lag im Bett. Auf dem Bauch. Der Mörder kam von hinten. Mit Hammer und Messer. Ein verzweifelter Kampf. Dann war der große Schauspieler tot.
Walter Sedlmayr
Sein Doppelleben“

Für das Kleingedruckte blieb kaum noch Platz. Erst dort aber erfuhr der geneigte Leser das wahre Ausmaß des Skandals. Der so ehrenwerte, so beliebte Volksschauspieler war schwul und wurde womöglich von einem Strichjungen erschlagen. Das war sofort und gnadenlos das Ende des Mannes in bayerischem Glanz. Und ein Paradebeispiel mit dem Titel: Auch Schwulsein will gelernt sein. Denn weder die Täter noch die Kommissare der Polizei wussten damals, wie das wirklich geht.

Angeblich waren der Ministerpräsident und die ganze Münchner Schickeria überrascht und bestürzt und blieben angewidert dem Begräbnis fern. Selbst Kollegin und Freundin Uschi Glas (76) gab ihrem Walter nicht das letzte Geleit. Schrecklich.

Tatsächlich kamen 2.000 Trauergäste zum Leichenschmaus, darunter 300 sehr berühmte Kollegen und der Oberbürgermeister persönlich führte die Trauerreden an.

Die Presse feierte Umsatzrekorde. Die schwule Szene Münchens wurde wochenlang durchkämmt und überwacht. Es wurde ermittelt ohne Ende. Bei 50 Strichjungen war der Sedlmayr Kunde. Von Lederszene über Sadomaso Praktiken bis hin zu AIDS wurde dem Mordopfer alles angedichtet, was sich der naive Hetero und die verlogene Klemmschwuchtel in ihren widerlichen Fantasien ausdenken konnten. Das meiste davon war frei erfunden. Weder hatte Walter Sedlmayr SM Sex noch AIDS. Kondome und Gleitmittel hatte er vorbildlich immer dabei.

Und er war bei den Strichjungen beliebt. Seine Telefonnummer wurde bei ihnen herumgereicht, getauscht und gehandelt. Die Arbeit war leicht. Der Freier war eher schüchtern, bescheiden und anspruchslos. Aber die Bezahlung war fürstlich. Und für 500 bis 700 Mark pro Nummer hielt man damals selbstverständlich auch seinen Schnabel. Trotz Hunderten von Verhören brauchten die Ermittler viele Wochen, um zu kapieren, dass der als SM Orgie inszenierte Tatort mit der Realität nichts zu tun hatte und ein Stricher somit als Täter ziemlich sicher ausgeschlossen werden konnte.

Was wäre wenn… Eines ist sehr wahrscheinlich: Wäre einer der Kommissare offen schwul gewesen, wäre er den wahren Tätern viel früher auf der Schliche gekommen. Denn ein Schwuler hätte sofort gesehen, dass dieser Tatort inszeniert worden war von jemandem, der keine Ahnung von schwulem Sex hatte. Aber die Inszenierung war durchaus erfolgreich, denn die Polizei hatte ja auch keine Ahnung.

Bleibt die Frage, wieso hat Walter Sedlmayr sein Privatleben vor allen geheim gehalten? Wieso hat angeblich niemand was geahnt? Wieso haben die Stricher nicht mit der Polizei kooperiert, immerhin standen sie alle unter Mordverdacht?

Die Erklärung ist so einfach wie schändlich für unseren damaligen Staat: Der § 175 war auch nach dem Mord noch vier Jahre in Kraft. Sex unter Männern war noch immer strafbar in Deutschland, und Strichen sowieso. Natürlich wussten alle Insider Bescheid. Die Presse, die Kollegen, die Freunde, die Mitarbeiter und Gäste waren natürlich informiert, aber diskret. Keiner wollte den Freund und Kollegen outen und damit in die Gefahr einer Anklage wegen widernatürlicher Unzucht bringen.

Nur die Polizei und die Bevölkerung ahnte auch 30 Jahre nach der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre noch immer nichts. Gerade beim Theater, Film und Fernsehen waren Schwule hoch willkommen und akzeptiert wegen ihrer künstlerischen Fähigkeiten.

Die wirklich Berühmten konnten kaum langfristige Freundschaften pflegen, ohne das es auffiel. Da waren Callboys die einfachste Lösung, auch für Walter Sedlmayr. In seiner Situation traute er kaum jemandem, sondern zahlte lieber bestens für den Sex und für die damals selbstverständliche Diskretion. Dass er ausgerechnet von seinem Ziehsohn und dessen Halbbruder aus purer Habgier erschlagen wurde, ist tragisch.

Nur in einem Fall hat Sedlmayr die Öffentlichkeit ohne Zwang belogen, aus soliden finanziellen Gründen. Als Aushängeschild der Bierindustrie hat er auf Plakaten und in Werbespots strahlend glücklich des Deutschen liebstes Gebräu getrunken. Privat hat er das Zeug nie gemocht.

Sein Schwulsein dagegen musste er verbergen. Die damalige Gesellschaft und das Strafrecht hatten ihn dazu gezwungen. Dass das Publikum von seinem Doppelleben rein gar nichts mitbekam, beweist einmal mehr, ein wie guter Schauspieler er war.

Voller Hochachtung,
Jan
Webmaster
vom homo.net Team

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