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#MeToo - Gift für die schwule Community

homo.net Info vom 19. August 2021
von Webmaster Jan

 

Im April dieses Jahres fand der Auftakt zu den Prozessen um einen Arzt vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten statt. Der Vorwurf: In den Jahren 2011 bis 2013 soll der international anerkannte Mediziner fünf Patienten sexuell missbraucht haben.

Hier schreckt der moralisch sensibilisierte Bürger auf. Ein Doktor nutzt das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Arzt und Patienten aus, um sie auf sexueller Ebene zu übervorteilen. Gerade in Zeiten von #MeToo ein handfester Skandal, der nur eine Meinung zulässt. Das wahre Leben ist meist etwas mehrdimensionaler als der Hashtag #MeToo, der die Welt undifferenziert in Schwarz und Weiß, in Opfer und Täter unterteilt.

Die Praxis, in der der angeklagte Arzt praktiziert, ist eine bekannte schwule „Kiezpraxis“ im Berliner Szene-Stadtteil Schöneberg. Wie in der schwulen Community üblich, wird hier geduzt. Auch sonst herrscht ein lockerer Umgang zwischen Ärzten und Patienten. Dies ist in der Szene bekannt und wird mit Wertschätzung honoriert. Patienten, die ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Arzt bevorzugen, finden in der Stadt ausreichend Alternativen.

Auch einer der Nebenkläger, ein Akademiker Mitte dreißig, gab bei seiner Befragung vor Gericht an, dass er sich in der Praxis immer gut aufgehoben gefühlt habe. Geändert habe sich dies an jenem Tag, an dem es während einer ärztlichen Untersuchung zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und ihm gekommen sei.

Ob und wie die Grenze zwischen Untersuchung und sexueller Handlung überschritten wurde, gilt es nun für das Gericht zu klären. Ein Schöffe unterstützte die Wahrheitsfindung mit einer wichtigen Frage an den Zeugen: Warum habe er den Arzt nicht unterbrochen, als er dessen Handlungen als sexuell übergriffig empfand? Der Zeuge begründete: „In der Situation funktioniert das nicht. Es gibt irgendwie nicht den richtigen Moment, um das abzubrechen.“

Hier offenbart sich das ganze Dilemma der #MeToo Bewegung. Ein mündiger, erwachsener Mensch mit akademischem Bildungsgrad ist nicht imstande einzuschätzen, wann der richtige Moment ist, „stopp“ zu sagen. Er bringt den Sachverhalt zur Anzeige und hebt ihn somit auf eine gesellschaftliche und institutionelle Ebene. Gleichzeitig entbindet er sich aus seiner selbstverantwortlichen Pflicht.

Mit diesem Vorgehen schwimmt der Kläger im Fahrwasser einer woken Bewegung, die es verlernt hat, selbstbestimmt mit Problemen umzugehen und stattdessen die Verantwortung auf übergeordnete Instanzen überträgt. Dabei wird stets Gerechtigkeit gefordert und doch nur Selbstgerechtigkeit angestrebt.

Ein #MeToo Skandal dieses Formates liefert begehrten Stoff für die Presse. Das heikle Thema lässt sich gut vermarkten. Es bietet den Herausgebern zudem die Möglichkeit, ihre Verlage moralisch zu positionieren und deren Leser in Richtung der eigenen Überzeugung zu erziehen. Wie auch beim Thema „Gendern“ wird von einer neutralen Berichterstattung abgewichen und die eigene Weltsicht für die einzig richtige erklärt. Entsprechend undifferenziert fiel ein Großteil der Berichterstattung aus. Bereits vor Prozessbeginn wurde den Klägern ihr Status als Opfer anerkannt, der Arzt als Täter gebrandmarkt.

In Deutschland gelten jedoch strenge Regeln für die sogenannte „Verdachtsberichterstattung“. Diese sehen unter anderem vor, dass Journalisten nicht vorverurteilend berichten dürfen. Im Falle eines Verdachts muss eine ausgewogene Darstellung des Sachverhaltes angewandt werden. Diese Regeln wurden von einigen Vertretern der Presse derart stark missachtet, dass die Richter des Berliner Landgerichts deren Berichterstattung zu dem Fall für unzulässig erklärten.

Die Anklage des Arztes wurde zudem von selbst ernannten Moralisten befeuert, die den Fall für ihr Anliegen instrumentalisieren, #MeToo in der schwulen Welt zu etablieren. Dabei nehmen sie billigend in Kauf, dass der Nährboden für #MeToo - das gegenseitige Denunzieren - ein Klima des Misstrauens und somit eine Spaltung der Community bewirkt. Der Preis für ihren Erfolg wäre eine gesellschaftliche und institutionelle Regulierung des schwulen Selbstverständnisses, eine Regulierung, von der sich die Community in den letzten Jahrzehnten mühsam emanzipiert hat.

Welch toxisches Klima #MeToo erzeugen kann, ist in der Welt der Heteros zu beobachten. Hier wird ein Kompliment oder ein harmloser Flirt schnell zur Straftat stilisiert. Der Hashtag wird zudem gelegentlich als Waffe missbraucht, um aus Gründen der Rache, des Neides oder anderen niederen Beweggründen ganze Existenzen zu vernichten.

Wir können uns mehr als dankbar schätzen, dass sich #MeToo mit all seinen negativen Begleiterscheinungen bisher nicht in der Gay-Community etabliert hat. Würden sämtliche Schwule nach einer launigen Party all jenes zur Anzeige bringen, was bei den Heteros als „sexuelle Belästigung“ gilt, wären die Gerichte in diesem Land vermutlich mit nichts anderem mehr beschäftigt.

Natürlich herrschen in einer Arztpraxis andere Gesetzmäßigkeiten als auf einer Party. Doch auch hier sollten wir uns glücklich schätzen, wenn der offene und zwanglose Geist der schwulen Community gelebt wird. Damit dies so bleibt, dürfen wir nicht zulassen, das uns einzelne Stimmen sowie die selbstgefälligen Hüter der Moral in Opfer und Täter spalten. Die Community ist selbstbewusst und selbstbestimmt. Dafür sollen wir einstehen.

Ein gerichtliches Urteil zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs durch den Arzt wird für den 23. September erwartet. Der Angeklagte bestreitet alle Vorwürfe.

#MeToo? Bestimmt nicht
Jan
Webmaster
vom homo.net Team

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